Die Frage, wem Gazprom Germania (GPG) gehört und welche Konsequenzen dies hat, nahm in den ersten Apriltagen skurrile Züge an. Wenn zur GPG-Gruppe nicht Unternehmen mit einer hohen Bedeutung für den deutschen Gasmarkt gehören würden, könnte man es als lustige Farce abtun.
Die Vertriebs- und Handelsgesellschaft Wingas hat 2020 – gemäß dem letzten im Bundesanzeiger veröffentlichten Geschäftsbericht – in Deutschland und europäischen Nachbarländern rund 700 TWh im Handel und Vertrieb abgesetzt. Der Marktanteil in Deutschland dürfte rund 20 Prozent betragen. Beliefert werden vor allem große Industrieunternehmen und Stadtwerke. Astora ist der zweitgrößte Speicherbetreiber in Deutschland mit den beiden Speichern Rehden und Jemgum. In Österreich wird zudem der Speicher Haidach betrieben. Die Diskussionen um den Speicher Rehden, der vermutlich ausschließlich von Unternehmen der Gazprom-Gruppe genutzt wird, und seinen sehr niedrigen Füllstand wurden in den letzten Wochen und Monaten sehr breit öffentlich geführt. Mittlerweile ist der Speicher komplett geleert. An dem Fernleitungsnetzbetreiber Gascade ist GPG über eine Zwischenholding mit knapp 50 Prozent beteiligt. Dazu kommen weitere Beteiligungen. Unter anderem wird die Londoner Handelsgesellschaft der Gazprom-Gruppe, Gazprom Marketing & Trading (GM&T), durch GPG kontrolliert.
Die Farce begann dann am 1. April als Gazprom Export auf seinem Telegram-Kanal mitteilte, das Unternehmen habe das Eigentum an GPG „aufgegeben“. Das Einzige, was ziemlich schnell klar war, es war kein Aprilscherz. Ansonsten konnte niemand in Deutschland erklären, was „aufgegeben“ bedeuten sollte und wer denn nun GPG kontrolliert. Dies war unter anderem für die Kunden von Wingas ein Problem, die sich fragten, wie zuverlässig denn ihr Lieferant noch ist. Eine Reihe von Kunden schaute denn wohl sehr genau in die Verträge nach möglichen „Change of Control“-Klauseln. Wobei angesichts der aktuellen Marktpreise für Gas eine neue Beschaffung der Mengen in der Regel mit erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen verbunden wäre. Am Montag lichtete sich dann so langsam das Dunkel um die Ereignisse. Schon am 25. März hatte Gazprom Export die GPG-Anteile auf eine von Gazprom neu gegründete Gazprom Export Business Services übertragen. Am 31. März hat dann Gazprom Export 99,9 Prozent der Anteile an die neue Gesellschaft verkauft. 0,1 Prozent gingen an eine Joint Stock Company Palmary. An Palmary gingen aber auch 100 Prozent der Stimmrechte an der Business Services. Sie kontrolliert damit faktisch die Zwischenholding und die GPG-Gruppe. Palmary, so das Ergebnis der Recherche verschiedener Medien, ist nicht viel mehr als eine Briefkastenfirma. Sie hat ein kleines Büro in einem Moskauer Industriegebiet. Wem die Firma gehört, ist unklar. Seit dem 30. März ist Dmitry Tseplyaev Generaldirektor von Palmary. Er hat, auch dies haben verschiedene Medien in Russland recherchiert, bisher unter anderem als DJ und Autohändler sein Geld verdient.
Auch die Bundesregierung hat sich über das Wochenende sehr intensiv mit dem seltsamen Gebaren von Gazprom beschäftigt. Dies wurde noch intensiviert – so berichtete es dann der Wirtschaftsminister Robert Habeck am Montag in einer Pressekonferenz – weil der neue Eigentümer am 1. April den GPG-Geschäftsführer Igor Fedorov schriftlich aufgefordert hat, GPG zu liquidieren. Im Rahmen dieser Pressekonferenz teilte Habeck mit, die GPG-Gruppe sei der Treuhandverwaltung durch die Bundesnetzagentur unterstellt worden. Ein bisher einmaliger Vorgang in Deutschland, den aber das Außenwirtschaftsgesetz zulässt. Habeck begründete den Schritt mit einem Verstoß von Gazprom Export gegen Meldepflichten des Außenwirtschaftsgesetzes sowie den unklaren Rechtsverhältnissen bei Palmary. GPG beziehungsweise die Tochtergesellschaften der Gruppe betreiben in Deutschland kritische Infrastrukturen, deshalb besteht eine solche Meldepflicht. Habeck begründete die Entscheidung aber auch mit der Gasversorgungssicherheit in Deutschland, die von der Bundesregierung nicht willkürlichen Entscheidungen des Kremls ausgesetzt werden solle.
Was bedeutet die treuhänderische Verwaltung, die bis zum 30. September befristet ist? Die BNetzA übt die Stimmrechte aus, kann der Geschäftsführung der Unternehmen Weisungen erteilen und auch die Geschäftsführungen austauschen. Wie die Behörde genau agieren wird, bleibt abzuwarten. Direkt nachdem Habeck seine Entscheidung bekannt gegeben hatte, kommentierte der Präsident der BNetzA, Klaus Müller, die neue Aufgabe seiner Behörde nur sehr allgemein: „Wir sind uns der Verantwortung für die sichere Gasversorgung bewusst, die mit dieser Aufgabe verbunden ist. Unser Ziel wird es sein, dass Gazprom Germania im Interesse Deutschlands und Europas geführt wird. Wir wollen alle notwendigen Schritte unternehmen, um die Versorgungssicherheit weiter zu gewährleisten. Die Geschäfte der Gazprom Germania und ihrer Tochterunternehmen sollen in diesem Sinne kontrolliert weitergeführt werden.“ Vermutlich wird die BNetzA vor allem prüfen, ob sie mit den derzeitigen Geschäftsführungen zusammenarbeiten kann oder diese ersetzen muss. Der von Gazprom eingesetzte GPG-Geschäftsführer Fedorov wird mit Sicherheit das Unternehmen sehr schnell verlassen. Gazprom Export hat – so meldet die Zeitschrift für Kommunalwirtschaft (ZfK) – schon mitgeteilt, man werde alle eigenen Führungskräfte aus den Unternehmen abziehen.
Welche weiteren konkreten Maßnahmen die BNetzA ergreifen wird, bleibt abzuwarten. Vermutlich wird man sich vor allem auf die Frage konzentrieren, wie eine Befüllung des Speichers Rehden erreicht werden kann. Das neue „Speichergesetz“ (die Zustimmung des Bundesrats stand bei Redaktionsschluss noch aus) sieht vor, dass einem Speichernutzer die Kapazität entzogen werden kann, wenn er sie nicht nutzt, sprich den Speicher befüllt. Die BNetzA wird darauf achten, dass dies umgesetzt wird. Ansonsten agieren die Unternehmen ja entsprechend den Marktregeln. Mitarbeiter aus den betroffenen Unternehmen reagierten deshalb auch eher erleichtert auf die neue Situation. Vor allem für Wingas könnte dies die Möglichkeit bedeuten, Geschäftsbeziehungen wieder zu stabilisieren und Vertrauen zu gewinnen. Spannend ist die Frage, wie nun Gazprom Export reagieren wird. Der Entzug der Erlaubnis für GPG, das Logo und den Markennamen zu nutzen, dürfte leicht zu verkraften sein. Dies wurde von Gazprom Export schon verfügt. Zentral ist die Frage, ob Wingas weiter mit russischem Erdgas beliefert wird. Die genaue Höhe der Menge, die Gazprom im Rahmen langfristiger Verträge liefert, ist nicht bekannt. Aber sie dürfte in einer Größenordnung von 15 bis 20 Milliarden m3/a liegen. Zu der Einschätzung führen Informationen in älteren Geschäftsberichten. Habeck sagte bei der Pressekonferenz, er gehe davon aus, dass alle Beteiligten gemäß ihren vertraglichen Bedingungen handeln. Er sagte aber auch, angesichts der angedrohten Liquidierung habe daran Zweifel bestanden. Bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe hat sich an den Gasflüssen aus Russland nichts geändert. Seit Anfang April ist der Transit durch die Ukraine im Vergleich zum März sogar gestiegen. Einschränkungen der Lieferungen an Wingas lassen sich nicht feststellen.
Offen ist, wie es nach dem 30. September weiter gehen wird. Habeck betonte, die Treuhandverwaltung sei eine Übergangslösung. Die BNetzA werde die Zeit nutzen, um Ordnung in die Verhältnisse zu bringen, was immer dies heißt. Ob dann Gazprom Export das Unternehmen wieder übernimmt oder GPG verkauft wird, bleibt abzuwarten. In den vergangenen Wochen wurde immer mal wieder spekuliert, ob GPG oder einzelne Unternehmen verstaatlicht werden. Auf eine entsprechende Frage bei der Pressekonferenz reagierte Habeck ausweichend. In den vergangenen Wochen und Monaten wurde vor allem über eine mögliche Verstaatlichung des Speicherbetreibers Astora in Berlin spekuliert.
Warum hat Gazprom Export einen DJ zum Eigentümer von GPG gemacht? Auf diese Frage gibt es noch keine Antwort. Klar ist, Gesellschaften der GPG-Gruppe sind in den vergangenen Wochen aus unterschiedlichen Gründen wirtschaftlich und regulatorisch unter Druck gekommen. Dies gilt vor allem für Wingas und Astora. Ob sich der russische Gaskonzern deshalb von der Gruppe trennen wollte, ist völlig unklar. Aber selbst dann hätte man dies vermutlich mit weniger Irritationen abwickeln können. Zumindest aus deutscher Sicht war die gewählte Lösung völlig absurd und letztlich auch keine Lösung. Die ganze Aktion dürfte noch einmal sehr viel deutsches Vertrauen in Gazprom Export zerstört haben. Welche Zukunft die deutsch/europäisch-russischen Gasbeziehungen nach einem Ende des Ukrainekrieges überhaupt noch haben können, ist unklar. Nach den Ereignissen in den ersten Apriltagen ist wohl ein weiteres Fragezeichen hinzugekommen.