Ohne billiges Gas aus Russland müsse die Industrie womöglich statt auf Erdgas als Brückentechnologie gleich auf H2 wechseln, betonte auf den Berliner Energietagen Klima-Staatssekretär Graichen.
„Viele Gewissheiten, die über Jahrzehnte gegolten haben, gelten nicht mehr. Wandel durch Handel und Annäherung – das Motto, das gerade im Energiebereich von Bedeutung war, ist passé“, kommentierte Patrick Graichen, Staatsekretär im Bundeswirtschaftsministerium, mit Blick auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zum Auftakt der Berliner Energietage. Die Antworten darauf, sich nun von russischem Öl und Gas unabhängig zu machen, bedeuteten aber Schritte, „die wir im Kontext der Klimakrise gehen müssen. Insofern ist das, was das Fundament unserer Klima- und Energiepolitik angeht, durch den Krieg eher noch verstärkt worden“ – „also mit mehr Nachdruck und Tempo in Erneuerbare, Energieeffizienz, Elektrifizierung und grünen Wasserstoff gehen“.
Das Osterpaket umreiße bereits Ziele mit „Zahlen, bei denen einem schwindelig werden kann“: 215 GW Photovoltaik, 115 GW Windstrom an Land und 30 GW auf See bis 2030. „Wer jetzt nicht in diese Technologien investiert, der hat den Schuss nicht gehört“, so Graichen. Gleiches gelte auch für die Nachfrageseite. Um Gas im Energiesektor zu ersetzen, lande man zwangsläufig beim Strom – Kerntechnologien im Heizungssektor bei Ein- und Zweifamilienhäusern seien die Wärmepumpe, in Innenstädten die grüne Fernwärme. 5 bis 6 Millionen Wärmepumpen bis 2030 sind als Ziel gesetzt, und die Hersteller von Heizungsanlagen investieren nun in diese Technologien, unterstrich Graichen.
Graichen ging auf den Fahrplan ein, sich von den russischen Energiequellen schnell unabhängig zu machen. Keine Kohlenimporte mehr nach Europa ab August, bei Öl sei das schon etwas schwieriger, besonders für Ostdeutschland. Hierzu habe man aber gerade mit Polen über Kooperationen für Lieferungen über den Danziger Hafen gesprochen, um die Versorgung sicherzustellen. „Das schwierigste Thema ist das Gas, das werden wir nicht bis Ende des Jahres ohne erhebliche Friktionen lösen können.“ Hier müsse letztlich gelten, die Abhängigkeit vom Erdgas insgesamt zu reduzieren. „Das bedeutet, in einer Branche, die in ihren Reaktionen eher langsam war, nämlich im Wärmemarkt, in eine völlig andere Geschwindigkeit zu kommen, was den Aufbau von alternativen Technologien angeht.“
Bisherige Denkmuster müssen Graichen zufolge fallen. Etwa bei der Frage, ob für den Wohnungsbestand die Wärmepumpe geeignet sei. „Schauen wir doch mal auf die hohen Installationsraten in Schweden, Norwegen und Frankreich, wo die Menschen auch nicht allesamt in gedämmten Häusern leben.“ Allem Anschein nach habe man hier jahrelang den Trend verschlafen. Die Frage sei nicht mehr, ob die Wärmepumpe komme, sondern ob sie aus deutscher Produktion stamme. Ziel müsse es sein, den Markthochlauf auf Tempo zu bringen. „Jetzt investieren, jetzt sind die Knappheiten. Wer aktuell in der Lage ist, das anzubieten, macht das Geschäft seines Lebens“, so Graichen.
Auch bei grünem Wasserstoff stehe die Geschwindigkeit im Vordergrund. „In einer Welt, in der wir nicht mehr billig russisches Gas haben werden, muss sich der Industriestandort Deutschland neu justieren.“ Sei in der jüngsten Vergangenheit noch das Erdgas als Brückentechnologie gesehen worden, etwa in der Stahlindustrie vom Koksofen als Zwischenlösung über einen erdgasbefeuerten Prozess in Richtung Direktreduktion, müsse das nun überdacht werden. „Wenn diese Erdgaszwischenlösung nun teuer wird, dann muss es direkt zur Wasserstoffreduktion gehen.“
Die aus dem Krieg resultierende Energiepreiskrise lasse verstärkt erkennen, dass Deutschland mit seinen Transformationsschritten in die richtige Richtung gehe, sie zeige aber auch, dass eine weitere Beschleunigung über das bereits Geplante hinaus notwendig sei. Die gesamte Gesellschaft muss Graichen zufolge dabei mitwirken. „Wir brauchen eine Energiesparkampagne, eine, die anders ist als das, was wir bisher hatten.“ Sein Ministerium arbeite derzeit daran. „Eine großangelegte „Deutschland-spart-Kampagne“ – in Industrie, Gewerbe, Handel, Dienstleistung, privat und Schule. Überall muss das Motto lauten: 10 Prozent gehen immer“.
Die Welt mit günstigen Preisen von fossilen Energien sei vorbei. Den Status quo ante werde es nicht geben. „Wenn man den Energieweltmarktpreis als den neuen Gaspreis ansetzt, dann sind wir nun in einer anderen Welt, als wir es vorher waren.“ Dafür müssten Antworten gefunden werden – erst einmal Entlastungspakete im Kurzfristbereich. „Aber immer, wenn es über drei, vier Jahre hinausgeht, müssen es Investitionen in Technologien sein, die ohne Gas und Öl auskommen.“