Der Gassektor wird auch in späteren Dekaden noch eine immense Rolle in der Energieversorgung spielen, unterstrich Thomas Gößmann, Vorstandsvorsitzender der Vereinigung der Fernleitungsnetzbetreiber Gas und Vorsitzender der Geschäftsführung bei Thyssengas, auf dem Handelsblatt-Jahreskongress Gas, und stützt sich auf eine dena-Studie, die bei grünem Wasserstoff nach 2045 von einem 30-prozentigen Anteil am Endenergiebedarf ausgeht.
Die Dynamik bei Wasserstoff sei gewaltig: Binnen zwei Jahren sei der Blick auf den prognostizierten Bedarf bei Umfragen durch den Verband der Netzbetreiber in kleinen mittelständischen und Großunternehmen um den Faktor 10 gewachsen. Dringende Aufgabe der Politik sei es, die Rahmenbedingungen für Wasserstoff zu fixieren, andernfalls sieht Gößmann einen „immensen volkswirtschaftlichen Schaden“ auf Deutschland zukommen. Notwendig seien klare Regeln wie etwa in der Erdgasregulierung.
Er fordert die gesetzliche Verankerung einer integrierten Netzplanung von Wasserstoff und Erdgas, denn am Ende handele es um kommunizierende Röhren, bei denen in dem Maße, wie der Energietransport in dem einen System abnehme, er gleichzeitig in dem anderen zulege. Die Netzbetreiber jedenfalls stünden bereit, ein Wasserstoff-Startnetz umzusetzen.
Für falsch hält Gößmann die Stoßrichtung im EU-Gaspaket zur Entflechtung der Branche, in dem Unbundling-Vorschriften zukünftig strikt ausgelegt werden sollen. „Das würde mehr als die Hälfte der deutschen Netzbetreiber betreffen und sie aus einem sich entwickelnden Netz ausschließen“, kritisiert der FNG Gas-Chef.
Eine wesentliche Hürde stellten auch die Hemmnisse im Genehmigungsverfahren der IPCEI-Projekte dar, die längst abgeschlossen sein sollten, auf die man aber vielleicht noch bis Mitte kommenden Jahres warten müsse. „Da sind vier wesentliche Projekte, in Summe ein Wasserstoffnetz von bis zu 1.500 Kilometern Länge. Die Planungen sind fertig, die Projektpartner warten darauf, loslegen zu können.“ Gößmann rechnet damit, dass das erste reine Wasserstoffnetz 2025/26 in Betrieb genommen werden könnte.
Einig darin, dass der Aufbau eines Wasserstoff-Startnetzes notwendig sei, waren sich auch die Teilnehmer einer anschließenden Diskussionsrunde. Allein um die Importe von grünem Wasserstoff anzubinden und für die Industrie nutzbar zu machen, sei dies notwendig. „Die Importe warten nicht auf Deutschland“, kommentierte Jörg Bergmann, Sprecher der Geschäftsleitung von Open Grid Europe (OGE). „In der ersten Welle bauen wir für die Industrie aus – etwa für die Stahlbranche. Die können wir schließlich nicht mit dem Tankwagen beliefern.“
Frauke Thies, Exekutivdirektorin bei Agora Energiewende, rechnet damit, dass Wasserstoff zwar nur rund ein Fünftel der zukünftigen Energiewelt decken wird, sie hält den Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur aber für dringlich, „und zwar auch vor dem Hintergrund, dass die Gasbrücke nicht mehr in ursprünglich geplanter Form zur Verfügung steht“.
Möglichst dort, wo Industriecluster seien, solle mit einem H2-Netz gestartet werden. „Für den Wärmemarkt der Haushalte halten wir Wasserstoff aber für ungeeignet.“ Thies spricht sich zukünftig für eine integrierte Systemplanung aus, um auf der Gasseite einen geordneten Rückbau zu realisieren, „andernfalls wird es ein finanzielles Problem für die Kommunen geben, wenn nur noch wenige Kunden am Gasnetz hängen.“
Patrick Wittenberg, Geschäftsführer des Verteilnetzbetreibers Westnetz, verwies darauf, dass rund 63 Prozent der Energie, die sein Unternehmen absetze, der Wärmeversorgung diene. „Wenn wir das Thema Energiewende ernst nehmen, dann müssen wir auch die Wärme dekarbonisieren. Da wird es nicht die eine Lösung geben.“ Neben Wärmepumpen und Nah- und Fernwärme sei hier auch eine H2-Nutzung denkbar.
Wasserstoff dürfe nicht allein als sauberer Energieträger gedacht werden, erklärte OGE-Chef Bergmann. Er könne auch eine gewaltige Industrie werden. Die Niederlande etwa hätten schon grundlegende Entscheidungen getroffen und preschen davon. „Und wir wollen doch Technologieführer werden – machen momentan aber nichts in diese Richtung.“ Deutschland könne es sich aber nicht leisten, „ohne Brandschutzplan durch die Welt zu laufen“.
In Deutschland könne schnell ein Teil des Erdgasnetzes auf Wasserstoff umgestellt werden. „Wir sind committed, nach vorne zu gehen. Es scheitert nicht an der Finanzierung, es scheitert an der Investitionssicherheit.“ Bergmann hofft darauf, dass eine Amortisationsabsicherung für die ersten Schritte beim Aufbau eines H2-Netzes hier Sicherheit schaffen könnte. „Wir stehen nicht in einem normalen Marktrisiko, weil die Weichenstellung politisch gesetzt werden.“